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Wild und Grün

Ulrike und Jens Lilienbecker gründeten Wild und Grün – das Label für handgemachte Delikatessen aus dem deutschen Biosphärenreservat Rhön

Es ist still. Weit fällt der Blick von der alten Fasanerie auf sanfte Hügel, Wald und freie Flächen. Ein Land der offenen Fernen. Die Bayern haben sich diesen Titel ausgedacht, denn das Biosphärenreservat Rhön erstreckt sich seit 1991 gleich über drei Bundesländer. Mit 70.000 Hektar sind die Bajuwaren mal wieder die Größten, gefolgt von Hessen und Thüringen. Dort, fast auf dem alten Grenzstreifen, thront in dem neuen Bundesland das Jagdschloss Fasanerie über der Landschaft. Von der Rasenterrasse erkennt man im Wiesengrün noch einen Wachturm der untergegangenen DDR. „Wer ihn besteigen will, kann sich bei uns den Schlüssel ausleihen“, erklärt Ulrike Lilienbecker. Sie hat zusammen mit ihrem Mann Jens 2003 das klassizistisch-barocke Anwesen in der Nähe des Dorfs Hermannsfeld gepachtet, das Herzog Georg I. von Sachsen-Meiningen um 1790 errichten ließ.

Meiningen, das kennen manche, weil sich dort mitten in der Provinz ein geschichtsträchtiges Theater befindet. Aber drumherum, das ist eher deutsches Niemandsland, obwohl es doch nach dem Mauerfall so plötzlich wieder in die Mitte rückte. Zu entdecken ist eine ursprüngliche Kulturlandschaft, auf deren Fläche von 180.000 Hektar nur etwa 130.000 Menschen leben – auch ein Luxus für die Natur und ihre Produkte. „Biosphärenreservate werden von der UNESCO seit 1970 ausgewählt, und sind mit weniger Auflagen versehen als 
Naturschutzgebiete“, erzählt Ulrike Lilienbecker. Sie studierte Geografie und lernte den Kommunikationswissenschaftler Jens in Frankfurt kennen, als sie dort an der Uni 
Seminare gab. „Wirtschaftsentwicklung, Standortförderung“, das Paar ließ sich später mit einem eigenen Unternehmen in 
Erfurt nieder und übernahm Projekte vom Staat, der nach der Wende Arbeit in das ehemalige Zonenrandgebiet bringen wollte. „Die Nähe zur Grenze hat bei uns dazu beigetragen, dass die Dörfer ihre alten Strukturen behalten konnten, sie befanden sich in der Sicherheitszone“, erklärt Jens Lilienbecker. Und tatsächlich, bei der Anfahrt zum ehemaligen Jagdschloss scheint man wieder in die Welt der Nachkriegszeit einzutauchen. Immer wieder muss man an die Bilder aus „Heimat“ denken, dem Filmepos von Edgar Reitz – viele spannende Stunden über einen kleinen Ort im Hunsrück und das Schicksal seiner Bewohner.

Hagebutten in der Hand. Am einfachsten werden sie mit der Schere von den dornigen Zweigen geschnitten und bereichern später das Repertoire von Wild und Grün mit ihrem ganz besonders vollen Aroma. Fast hatte man die Früchte der Rose als Nahrungsmittel schon vergessen, obwohl sie besonders viel Vitamin C enthalten.

Wir befinden uns aber in der Rhön, Biosphärenreservat, im Jahr 2007. Die Idee, eine Kulturlandschaft nachhaltig zu schützen und damit ihren Bewohnern eine wirtschaftliche Zukunft zu gewähren, konnte im fast zu perfekt restaurierten Jagdschloss nicht besser umgesetzt werden. Nach dem Krieg waren die Russen hier – das windschiefe Holzhaus des Offiziers auf dem Gelände erzählt noch davon. Später richtete der SED-Staat ein Heim ein; und kurz vor dem Ende der DDR verhinderten die Einwohner von Hermannsfeld, dass man ihr Schloss abriss. „Sie haben selbst Hand angelegt, um das Gebäude zu erhalten“, erzählt Jens Lilienbecker, „nach der Wende fehlte aber bald ein Nutzer. Die Fasanerie stand leer, und wir haben sie bei unserer 
Arbeit entdeckt.“ Für 48 thüringische Rhöngemeinden 
sollten sie mit ihrem Büro neue Perspektiven entwickeln, am Ende fanden sie selbst ihre Zukunft. „Ich habe schon als kleines Mädchen gerne gekocht“, erklärt Ulrike, „und wir sind engagierte Anhänger der Slow-Food- Idee. Also haben wir den Sprung gewagt und im Schloss ein Restaurant eröffnet.“ Philosophie: Nur Produkte von nachhaltig wirtschaftenden Bauern der Region sollten auf der Speisekarte erscheinen und man wollte feste Arbeitsplätze schaffen, damit nicht noch mehr Menschen abwandern. Später kam auch noch eine echte Handelsmarke dazu. Wild und Grün: ein Label für kulinarisch wertvolle Rhönprodukte. „Unseren Kuchen im Glas können sie bei Dallmayr in München kaufen“, erzählt Ulrike nicht ohne Stolz. „Wenn die einen größeren Auftrag schicken, dann geht es bei uns rund.“ In der Profiküche wird dann in traditionellen Weckgläsern gebacken, zum Beispiel Sauerkirsche mit Marzipan, oder Fichtenspitzen mit Schokolade. Ein Netzwerk aus Frauen hilft, und steuert das notwendige Know-how bei, damit aus den Früchten der Rhön auch etwas Anständiges wird. 
Das führt dann sozusagen zum Autorenprodukt. Denn der Kunde erfährt, dass Doris Voderlind morgens um fünf aufsteht, um im Wald die Heidelbeeren für ihren Fruchtaufstrich zu sammeln. Bärbel Wachter sammelt dagegen die Waldhimbeeren, die mit wenig Zucker verkocht werden. Ein Glas mit handverlesenem Inhalt kostet 4,80 Euro und kann natürlich auch über das Internet zu bestellt werden. Holunder- und Lindenblüten, Schlehen – die wilde Tradition ist die Basis des Repertoires: Der Wald und die Kultur finden in der Küche des Biosphärenreservats zusammen. „Die Menschen hier waren früher arm, und haben deshalb ihren Honig aus Löwenzahnblüten bereitet“, erzählt die Schlossherrin. „Wir haben uns umgehört, und dieses Rezept kann man heute als Löwenzahnaufstrich probieren.“ Die gelben Blüten gewähren ungeahnte Aromen, sie stehen für Armut und Schönheit. Die Lilienbeckers wollen diese gewachsene Schönheit mit einem zeitgemäßen Leben verbinden, und das fordert ganzen Einsatz. Das Jagdschloss, mit gesamtdeutschen Mitteln zum Denkmal restauriert, hilft ihnen dabei. In seinem Obergeschoss finden Seminare statt, im prachtvollen Saal mit seiner bemalten Decke. Einen Preis hat das Werk der Hermannsfelder gewonnen, die sich von der vertrauten Institution nicht trennen wollten …

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